Die Zeit heilt alle Wunden. Die Zeit öffnet alle Wunden – alte wie neue.
Wozu bin ich in diese Welt geboren? Wozu? Ich suche überall, überall nach einem Sinn und finde doch keinen. Sinne – die hab ich. Und Sinne, die nehm ich wahr, und Wahrheiten, die ersinne ich, und
Ersinnen, das tu ich immer mehr – aber – wozu?
All diese Menschen. Nirgends ein Flachs von Sinn, nirgends ein Sinn für Flachs, für Humor, für Spaß, für nix.
Nix ernst, nix lustig, nix gar nix. Aber ich. Ich soll lachen – oder was? Wie denn?
Kleine Kinder sind süß so süß, kleine Kinder sind süß so süß und süß sind sie wie sie sind und sie sind so süß so süß kleine Kinder so – ekelhaft.
Was ist der Unterschied zwischen Kind und Kind?
Ja – ist keiner. Kinder kriegen Kinder, Kinder machen Kinder, Kinder Kindeskind – Kinder, nur Kinder, überall Kinder – Kinder. Ich kann Kinder nicht ausstehn. Kinder, die find ich gut,
aber Kinder kann ich nicht ausstehn. So was Ekliges. So widerlich – diese Kinder. Kinder können ja soooo grausam und Kinderspiele erst – Kinder sind grausam, ja – und der Himmel ...
Gott sei Dank, dass es noch einen Himmel gibt in dieser Welt, Gott sei Dank, dass es noch Sterne gibt in dieser Welt, Gott sei Dank, dass es noch Bäu –
NEIN – selbst die sterben. Alles stirbt, nur der Himmel. In den Himmel? Sterben in den Himmel, sterbend durch die Hölle, sterben, weil Himmel und Hölle, sterben weil, sterben, sterben weil –
sterben – Tote – nur Tote auf dieser Welt?
Abgeschnittene Blumen. Sie welken. Ein Samenkorn. Wasser – die Erde – Sonne – Mond – und Sterne – sie welken in den Himmel zum Boden. Der Boden stirbt, und leben tun die
Würmer, und sterben tun die Würmer, und essen tun die Würmer, und dauern tun die Würmer, dauernd essen sie, sie essen, und sie – und sie bereiten neuen Boden, bess’ren Boden, frischen
Boden, Humus für die Seele, Humus für das Laub, das lange braucht, um alleine seinen Weg zu gehen vom Himmel in die Erde – alleine. Nicht immer – nur manchmal fällt ein Blatt, hier ein
Baumstamm, da ein Grashalm und eine Zigarettenkippe und ein Popel und ein – und dann kommt Wurm und Erdgetier und schmatzt und rottet und wühlt und läuft und lebt, und macht lebend aus tot, macht
Leben – und wieder fällt ein Stamm. Zu viele Bäume? Zu wenig Menschen? Zu wenig was? Wer zählt hier eigentlich? Das Volk zählen. Ja – Gott vielleicht. Schon gesehen? Schon mal gehört
– schon fotofiert? Und all die schönen Bildchen: ein Kreuzlein hier, ein Kreuzlein da – ein Kreuzlein in Amerika. Ein Engländer in Indien, ein Franzos mit Hos in Pakistan, ein Japanös im
Sudistan, ein Deutschtiturk im Hallala – Gast und Fremd und Heim und Herd – ein Pferd – da läuft ein Pferd. Ein einziges Pferd. Und sonst geht’s gut – oder wie? Niemand
läuft mehr, alle humpeln, niemand sieht mehr, alle starren, niemand fühlt mehr, alle grabschen, niemand liebt mehr, alle haschen, hasch, hasch little Baby – bisschen Liebe, bisschen Furz –
hab keine Ahnung – aber – was is’n das?
Ich weiß nicht, was es ist. Ich weiß es wirklich nicht. Nie gesehen, nie gehört, nie gespürt, nie – tausendmal probiert, tausendmal is nix passiert – tausend.
Volt vielleicht. Energica. Kräfteli. Schubidi – i lieb di, i lieb di nett – ach Gett. Satisfaction. Selbstbefriedigung. Selbstbefleckung. Selbstliebe. Eigenliebe. Eigenhass – das macht
Spaß.
Lieben und weinen, hassen und lachen, Liebe und Kummer, Hass und Wut, Wut gleich Kraft, Kraft gleich Liebe, Liebe gleich Hass, nicht Hass ohne Liebe, nicht Liebe ohne Hass nicht – was n nun was?
Da ham sie sich was Tolles ausgedacht. Schon die alten Griechen. So doof warn die. 1 und 2. Also eine Hand, zwei Hand ist gleich drei Hand, d. h. nee. Zwei Hände sind nur durch die dritte Hand wieder
eine, also eine Hand wäscht die andere, aber wehe die dritte fehlt am Platze. Diälüktik. Zauberwort. Kinderkram. Was geht’s mich an?
Alles Schule. Alles Schulewissene. Wissense, ich weiß was – ich war aufe Schule. Hab Äbbi und bin Studdi inne Onni – Olli. Stan auch. Behält aber nichts. Zum Glück, kann ich da nur sagen.
In meinem Kopf die Klumpen, die hat er nicht. Ich aber klumpe, humpe, Klumpenzucker mit Klumpen bitte. Warum sind die Leute so geil auf Zerstörung? Atomspaltung? Kaputt machen? Kaputtmachen,
kaputtmachen, endlich absolut kaputt diese kaputte Welt – macht kaputt, was euch kaputt macht – ihr Säue! Nur kaputt machen. Alles kaputt. Und wir? Und unsere Kinder? Kaputt und wieder
zusammenkleben. Irgendwie. Hauptsache es hält. Immer schön in der Reihe bleiben. Ein Steinchen aufes andere. Fein. Und dann wieder einreißen. Fein. Und wieder auf und – wieder ab – und
wieder auf – und wieder ab und – ab in die Hölle. Alles gen Teufel. Und alle haben Angst vor dem Tod. Aber alle reden nur vom Tod. Alle haben Angst vor der Hölle. Aber alle reden nur von
der Hölle. Alle haben Angst. Und keiner weiß wozu. Alles Angst. Alles aus Angst. Und niemand merkt was, aber alle reißen sich um sie – die Angst. Im Lampenfieber. Spannungen, Horror, Schlag und
Tritt und abmarschiert und links und rechts und losmarschiert und rechts und links und ab du blind – du Kind.
Nur Kinder. Aber Kinder sind grausam. Und der Himmel?
Ist er noch da? Ist er da eigentlich noch? Wie oben so unten – wie schön. Oben siehts schöner aus als unten. Also wie oben so nicht unten.
Ich träume.
Von den Wäldern eines fernen Planeten. Im Schoß einer wunderbaren Jungfrau mit Engelszungen. Sie winkt uns nach oben. Sie winkt und fächert und weht mit ihrem Schleier. Und ich schaue hinauf. Gerade in
diesem Moment. Ein Licht – und die Sonne scheint. Die Wolken werden klumpig. Haufen um Haufen verziehen sie müde Gesichter. Blau werdend. Bis zur Entladung. Ein Gewitter. Und Regen ergießt sich
über die Erde und alles schwimmt – die Häuser, die Bäume, die Straßen – und ich liege da und treibe – im Meer warmer Ergüsse. Der Himmel reißt auf, und ich versinke. In die Tiefe,
dorthin, wo ich hergekommen bin – im Leben alter Säugetiere, im Bauch eines großen Tigers, weggetragen von wilden, weiten Überschwemmungen – ein Traum – mehr nicht.
Paradiese im Traum. Hier im Traum. Ich träume leidenschaftlich gerne. All die hässlichen Gesichter. Ich leide schaffend ungerne. Schaffle, schaffle, Häusle baue –
wobei ich vergaß, die Menschen zu erwähnen. Alle schaffen, aber keiner will leiden. Daher so wenig Leidenschaft. Leiden kann so schön sein. Richtig leiden – sich hingeben den Kämpfen des
Körpers, der Seele, dem Schmerz, der im Herzen drückt. Und leiden kann so hässlich sein. Sich wehren dem Krampf, der krampfend die Ängste schürt vor weiteren Krämpfen, und alles krampft und knotet
nur noch, und alles presst aus sich raus, und alles erblaut und erstickt und verzieht und zerquält und wird festgehalten. Rote Blutklumpen stoppen die Abwehr. Sie drücken so sehr, dass sie rausmüssen.
Alle Wehr vergebens. Alle Qual umsonst.
Alles Widerstreben zum eigenen Feind erkoren – alles Leid zum unerträglichen Schmerz, alle Krämpfe zum großen Krampf – alle Kämpfe zum großen Kampf – alle Kriege zum großen Kriege
– ich bitte euch – haltet endlich ein – ICH HABE ANGST!
Habe ich umsonst gelitten? Habe ich umsonst den Großen den kleinen Krieg erklärt? Meinen – meinen ganz kleinen, aber wenigstens einen – kleinen?
Ich würde so gerne leben. Ich würde so gerne lieben – leidenschaftlich! Ich möchte so gerne sterben – leidenschaftlich sogar – warum aber sterbe ich nicht? Warum ihr nicht? Warum
stirbt überhaupt niemand? Geht immer alles wieder von vorne los. Immer wieder immer wieder noch mal und noch mal und schon wieder noch mal – ... und wieder.
Alle Pfade der Menschheit zertreten. Alle zugepflastert. Alle Wege preisgekürt, überall Wegweiser – und alle weisen in die Irre. Irrenhäuser, Irrenanstalten – eine einzige Irrenanstalt ist
das hier, ausgenommen die wenigen Irrenhäuser, Inseln der Zuflucht der Irrenwelt Entrückter, die ihrer Qual durch Wahnsinnige von Krankenpflegern und Ärzten einen jähen Höhepunkt setzen lassen,
vollgepumpt mit Spritzen, Schlägen, Strom und Reißriemenblutergüssen – Gefängnisse, Glashäuser – leere Patronenhüllen von Menschen laufen auf dem Erdball herum und pikieren all die
freigewordenen Erdfleckchen mit neuem Dünger – Menschendünger – umgeformt in jahrzehntelanger Arbeit von Öl auf PVC – umzuformen in jahrweißnichtzuquetschen zu Wassertomaten
nährendem Plastikmus – Humus längst vertreibend zu altem, verstaubtem Leichensand – zurück zur Natur – zurück zum Sand – zum Strand – sauber genäht mit eingefassten
Standburgwellen – alles kreisförmig – alles am Kreisen – ein Kreis – ein Teufelskreis.
Der Teufelskreis ist absolut irdisch. Himmlisch nur das Angebot dazu. Ein himmlisches wohlgemerkt. Doch Hans-guck-in-die-Luft stolpert, und Heinz-Kopf-in-den-Sand stümpert, und Heinz hört nicht auf
Hans, Hans nicht auf Heinz, und alle bleiben beim Alten – der eine guckt in die Luft, der andere in den Sand – umgekehrte Bäume – Krone auf Erde, Wurzel gen Luft – wenn das keine
schlechte Ernte bringt.
Es gab eine Zeit, da saßen die Menschen noch auf Bäumen. Säßen sie heute auf Bäumen – niemand ließe seinen Hut nach einem Strandbad im Sand liegen – niemand – denn die Waffen
kämen von oben – die Hüte schützend am Kopf gegen Hagel und Regen, gegen Kokosnuss und Bananenstaude.
Heute aber, wo die Menschen auf stählernen Rossen, auf steinigen Geschossen vom Himmel zur Erde blicken, da fallen die Menschen – vom Himmel – aus dem 10. bis 20. Stock – die Dächer
brennen und lodern, Raketen krachen und modern in Abschussrampen vor sich hin. Kein Hut könnte das mehr tragen – kein Hut – kein Kopf – kein Helm – also: Kopf in den Sand.
Leute – ich habe Angst. Mein Kopf im Sand, der atmet nicht, meine Nase im Himmel, die spürt nicht, was da vor meinen Füßen leblos leidet – ein Mensch – ein kleiner Mensch – ein
ganz kleiner Mensch. Ein Kind ist uns geboren – spürt ihr es nicht? Ein Kind – ein wunderschönes, kleines, sanftes, duftendes warmes Kind. In den Augen ein Hauch von Trauer – in der
Nase ein leichtes Zucken, in der Hand ein kleiner Zettel, auf dem steht:
ich schreie – ich schreie – hört ihr mich nicht?
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© 2002 Jutta Riedel-Henck
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