»Ich würde dir so gerne mein Leid klagen ...«
Ja, wer möchte das nicht ... mal so richtig alles rauslassen, sich den Kummer von der Seele reden, das Herz befreien von all dem Druck ...
Ich war schon immer ein Freund, der schnell und ohne zu fackeln ein offenes Ohr für die Probleme seiner Mitmenschen hatte. Einfach zuhören, ein wenig Trost spenden, sich einfühlen in den verwirrten
Magen ...
Oft blieb ich stehen wie ein beladener Esel, dem immer noch ein Päckchen auf den Rücken gesattelt wurde, um vor Wut und Entsetzen buckelnd davonzulaufen. Im Haus der Räuber angekommen legte der Esel
die Pakete fein säuberlich vor sich hin und begann, die kreuz und quer verschachtelten Klebestreifen folgsam und ergeben von der Verpackung zu lösen.
»Es muss doch auch mal erlaubt sein, sich auszuheulen!«
Wie ist das mit der »Unfähigkeit zu trauern« der Nachkriegsgenerationen? Sind wir nicht stets umzingelt von traurigen, klagenden und vorwurfsvollen Gesichtern?
Manch einer schlug mir Briefe oder Texte um die Ohren, in denen ich die Missstände meines Lebens erklärte: Es sei eine Frechheit, so etwas zu schreiben. Ein tiefer Hass quoll mir entgegen, dass ich mich
wie die schlimmste und gefährlichste Bestie der gesamten Menschheit fühlte. Mit ein wenig Abstand las ich das Geschriebene erneut und wunderte mich: War mein Schreiben nicht Ausdruck der Bereitschaft,
Leid zu benennen, um es gleichzeitig eigenverantwortlich zu verdauen, ohne die heimliche Erwartung, ein Prinz möge kommen, um mich vor der bösen Stiefmutter zu retten?
Die Sprache der Menschen verrät nicht selten ein verborgenes Geheimnis. »Heulen« ist nicht gleich »Weinen« und »Klagen« nicht gleich »Trauern«.
»Nun leg doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage«, schallt es zurück, während meine Worte auf der Viehwaage lagern, um als übergewichtig zu gelten.
»Sagst du nicht selbst, dass es wichtig ist, sich auszutauschen? Damit das Leid auf dieser Welt kein Tabu-Thema bleibt?«
»Spuck aus, ich sortier«, ein Vorgang der Verdauung, der den Fluchtweg zur oberen Region des Körpers nimmt, statt Magen und Darm zu passieren und die Tiefe des Geschehens zu ergründen.
Erbrechen und Durchfall in akuten Krankheitsfällen dienen der raschen Entgiftung des Lebewesens: ein nützliches Signal. Wenn der berühmte Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt, Wut, Hass und
Aggression sich einen unkontrollierbaren Weg bahnen, um blind zu treffen, wer gerade »im Weg« steht, wenn die Seele kocht und explodiert, offenbart die Not ihr ungeschminktes Gesicht.
Symptome unverdauter Konflikte überschwemmen die Welt der intelligenten, aufgeklärten Bürger, die an chronischen Verdauungsstörungen leiden, an Magersucht oder Bulimie. Die Ursachen und Umstände für
ihre Seelenqualen bleiben bestehen, werden gepflegt, geschont oder der Gesellschaft allgemein angelastet, um sich persönlich aus der Verantwortung zu stehlen. Immer wieder begegne ich Menschen, die der
Anklagen gegen den Rest der Welt mächtig sind, um zugleich in abwartender Stellung ihr Gemüt zu streicheln, es möge irgendwann das große Wunder geschehen.
Die chronische Meckeritis: eine Volkskrankheit der Deutschen. Von Lustlosigkeit durchwachsen, einer unbezwingbaren Sehnsucht, voller Gier nach übernatürlicher Faszination, sollen die irdischen Retter
vom Himmel fallen: Ärzte, Genies, Rock-Musiker, Schriftsteller, Prinzessinnen, Psychotherapeuten, Politiker, Lehrer, Tennis-Cracks, Astrologen, Millionäre, Priester, heilige Mütter der Nationen,
Wohltätigkeitsveranstalter, Bankiers, Showmaster, Kinder ...
Erstaunlich, wie leicht es manch einem Aufrechtgehenden fällt, sein Leid zu klagen, um anschließend beschwingt an den Ursachen vorübersprinten und neuen Kummer heraufzubeschwören: bis zum nächsten
Mal, nur das eine Mal noch, ein einziges Mal, dann ist Schluss ... aber die Sucht verschwindet nicht von alleine.
So offen mein Herz für das Leid meiner Mitmenschen ist: Werde ich als seelischer Mülleimer eines Süchtigen missbraucht, reagiere ich wütend, direkt und hart, um mich zu schützen vor Ausbeutung und
Vergiftung.
Oft bekam ich zu hören, ich solle nicht so hartherzig sein, wurde mir asoziales Handeln, Arroganz und Widerspenstigkeit vorgeworfen: »Nun sei doch ein bisschen netter zu dem oder der, die mögen dich
doch! Schmeiß nicht so schnell das Handtuch. Einen Versuch ist es immer wert!« Die bettelnden Augen eines klagenden Süchtigen verleiten, ihm nachzugeben, folgt dem Widerstand doch ein
grauenerweckender Horrortrip, da der Abhängige dem Verweigerer seinen gesamten Lebensfrust um die Ohren, besser noch mitten in die Seele spuckt.
Meine konsequente Weigerung, Süchtigen als Mittel der Befriedigung ihrer Abhängigkeit zu dienen, wird leider nicht honoriert. Stattdessen muss ich erleben, wie unwichtig ich den Klagenden war und bin,
als Person, die nur Liebe und Zuneigung erfuhr, solange sie funktionierte, um den Rausch zu füttern durch seelische Verdauungstätigkeit.
Beklagen durfte ich mich bei jenen, die an der Ursache meines Leids mitwirkten, nicht. Dass ich nur schrieb, um mich und mein »hartes«, »unsoziales« Verhalten zu erklären, um nicht auch noch dafür
beschuldigt zu werden, dass ich mich schützte, interessierte die Süchtigen kaum. Jedes Wort, das ihren Klagegesängen verwandt schien, wurde mir in den Mund geschoben, angereichert mit Vorwürfen,
denen der Kontakt mit den niederen Verdauungsorganen vorenthalten blieb.
Nach wie vor habe ich ein offenes Ohr für das Leid meiner Mitmenschen. Ich unterscheide Menschen, die trauern und verdauen, von jenen, die es vorziehen, mit den Wölfen zu heulen. Um das zu tun, bedarf
es weder Worte noch Bezeichnungen. Meine empfindsame Seele spürt, welchen Ursprungs Tränen sind, ob tief greifend befreiend oder hoch trabend belastend: Wahre Leidenschaft ist unbestechlich und die
einzig heilsame Vorbeugung gegen chronische Meckeritis.
© 2002 Jutta Riedel-Henck
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